Der Mensch zeichnet sich nicht nur durch den Willen aus, Zeichen zu setzen, sondern auch durch die Fähigkeit, Zeichen zu lesen. In jeder Wolke, in jedem Farbfleck vermögen wir Dinge zu erkennen, und Assoziationen können die entferntesten und gegensätzlichsten Gegenstände und Phänomene miteinander verbinden. In Zeiten der Krise, wenn Botschaften Angst erzeugen und Widersprüche
transportieren, wenn die Kommunikation feindlicher wird und viele verstummen, steigt das Bedürfnis, Zeichen zu entziffern. Man sucht Antworten und glaubt sie außerhalb von sich selbst zu finden, dabei hat man sich die Zeichen selbst zusammengelesen, in Gehweite von der eigenen Wohnung, die man nur noch zu stark eingegrenzten Zwecken verlassen darf. Zum Beispiel für Spaziergänge, auf denen man plötzlich, en passant Spuren von Gedichten findet. Dann wird der Lockdown erneuert, schließlich geht er in die Verlängerung. In der Endlosschleife der der immer gleichen Wege finden sich immer weniger Zeichen, und sie sind immer schwerer zu entziffern. Die Zeichen werden zu Rätseln. Oder sie sind so leicht zu lesen, dass sie Antworten gleichen, die aber nichts mehr bedeuten
zu scheinen. Und die Versuche, die Zeichen zu lesen, werden zu purer Ästhetik.
Kirstin Breitenfellner
Lockdown-Spaziergänge
Lockdown-Spaziergänge, Verlängerung
Lockdown-Spaziergänge, Endlosschleife