Fotos aus dem Roman „Die Überwindung des Möglichen“ (Edition Voss, Horlemann Verlag, 2012)
Da die Edition aufgelöst wurde, ist der Roman nur noch über die Autorin erhältlich.)
Bis vor kurzem hatte Tinka auf ihren Spaziergängen das Zoomobjektiv aufgeschraubt gehabt und die Dinge so nah rangeholt, wie es nur möglich war. Die weiße Fettschicht in der Leiste einer baumelnden Hammelhälfte oder die Schaumrolle in einem Schaufenster, auf der sich im Abendlicht eine Laterne spiegelte.
Seit sie das Buch dieser kalt analysierenden Diva gelesen hatte, die sie mit ihrem pechschwarzen Haar und der weltbekannten grauen Strähne so verächtlich vom Cover anblickte, ein Buch wie eine Ohrfeige, das immer noch auf ihrem Nachttisch lag und kaum noch unangestrichene Stellen aufwies, konnte sie nicht mehr unbefangen auf den Auslöser drücken.
Seitdem wusste sie, dass das, was sie tat, schon Generationen durchexerziert hatten, seit über hundertfünfzig Jahren, seit Erfindung der Kamera. Aber es half nichts. Sie musste den Sucher auf immer kleinere Ausschnitte richten, auch wenn sie jedes Mal, wenn sie die Daten auf den Computer hochgeladen hatte, enttäuscht war.
Je näher sie an die Dinge heranging, desto mehr entzogen sie sich ihr. Desto banaler wurden sie. Weil sie keine Gestalt mehr hatten. Alles sah so eindimensional aus. So wenig lebendig. Eine Putte an einem Haussims hatte noch eine Position und eine Aufgabe. Die Putte auf einer Nahaufnahme war nur noch Dekor.
Entstellt bis zur Kenntlichkeit, dachte Tinka. Ein Satz aus einer Zeitung, so wahr, dass er wieder unwahr wurde. Sie konnte nicht aufhören zu suchen, auch wenn sie immer noch nicht zu sagen gewusst hätte, was sie überhaupt suchte.
»Ich bin ja keine Fotografin, sondern eine Amateurin«, sagte sie sich trotzig, aber dennoch banden ihr die Sätze aus dem Buch die Hände. Sagte die kalte blickende Hexe, die vor kurzem gestorben war und die Tinka liebte und hasste wie das Fotografieren selbst, nicht, dass Fotografie sowieso keine Kunst war, weil jedem Laien durch Zufall ein Bild gelingen konnte, das sich in nichts von dem eines Profis unterschied? (…)
Fotografieren war das Unbefriedigendste, was sie sich vorstellen konnte. Trotzdem konnte sie nicht aufhören damit. Es schien ihr, dass sie einmal zu einer Lösung kommen musste. Deswegen machte sie weiter, einstweilen und nicht ganz freiwillig. »Der Fotograf ist wohl oder übel damit befasst, die Realität zu antiquieren, und jede Fotografie wird sofort Antiquität«, schrieb die Hexe. Also gehörten Fotografien und Ramsch zusammen. Beide schrieben Geschichte. (Aus: Die Überwindung des Möglichen. Roman)